Leseprobe

Renata Huonker-Jenny
Schleudertrauma – Das unterschätzte Risiko

Vorwort

Schleudertrauma – allein das Wort löst Unbehagen, Angst, Befürchtungen und oftmals sogar Streit aus. Nicht direkt Betroffene mögen sich aber auch fragen: Ein Schleudertrauma, was ist das eigentlich? Nach der Lektüre der Reportagen und des Sachteils weiß man es besser, schwitzt dafür aber womöglich auch ein bisschen bei der Vorstellung, wie schnell es einen doch treffen kann. Der Gedanke, womöglich selber einmal zum »Prozentsatz« zu zählen oder einen lieben Mitmenschen in ihn hineingeraten zu sehen, wird nachdenklich machen. Wie bizarres Wurzelwerk greifen Unfälle mit der Folge eines langwierigen Schleudertraumas in das Leben der Betroffenen und ihrer Nächsten ein. Ihre Berichte legen weitgehendes Fremdland frei. Selten wird davon gesprochen, wie sich ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) seelisch und körperlich wirklich anfühlt. Es ist auch gar nicht einfach, eine Sprache dafür zu finden. Den Opfern geht es oft über lange Zeit nicht gut genug, um ihren Zustand in Worte zu fassen; zudem sitzt die Erfahrung, nicht oder nicht genügend verstanden zu werden, tief. Ein Buch darüber zu lesen kann deshalb eine Unterstützung für die Betroffenen bedeuten oder sogar einen Weg zur Selbsthilfe bilden. Durch Information ebnet sich auch der Weg für eine größere Anerkennung ihres Leidens. Information ist auch ein Mittel, dem Leiden größere Anerkennung zu verschaffen. Unfallopfer finden sich nicht nur von einem Moment auf den anderen in einer komplett veränderten Lebenssituation. Es beginnen oft auch Auseinandersetzungen mit Versicherungen, die ihre Pflicht, die Folgekosten eines Unfalls zu übernehmen, bestreiten. Dadurch geraten immer noch zu viele Betroffene in einen anstrengenden und langwierigen Kampf um ihre ökonomische Existenz. Viele HWS Verletzte haben nicht nur Mühe, ihre Wohnung oder ihr Haus zu verlassen, sie sind auch in ihrer Person eingekerkert und können sich nur noch mühsam ausdrücken. Es kann deshalb geschehen, dass Sie von einem Nachbarn, der ein Schleudertrauma erlitten hat, nie erfahren werden, was genau ihn beschwert. Ebenso ist es nicht unwahrscheinlich, von einer Bürokollegin, die wegen der gleichen Verletzung unzuverlässiger wird, nur zu hören zu bekommen, dass »es« sich nicht bessern will. Nicht erstaunlich ist es daher, dass relativ viele Mitmenschen ein Schleudertrauma für ein rein innerpsychisches Geschehen halten. Sie meinen, mit den Mitteln der Willenskraft oder über eine Verarbeitung müssten der Schrecken und erst recht die nicht sichtbaren – und oft nicht adäquat diagnostizierten – physischen Folgen doch zu überwinden sein. Zahlreiche Betroffene zweifeln deshalb auch an sich selbst, schämen sich, werden wütend, resignieren oder empfinden Ohnmacht und Isolation, weil sie diese Erwartung nicht erfüllen können. Eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema und ein Blick in die Geschichte des Hals-Kopf-Traumas zeigen jedoch, dass Willenskraft und Verarbeitung allein nicht helfen. Was aber dann? Das »klassische« Schleudertrauma ist nicht von Dauer; es heilt nach einer – wenn auch unterschiedlich langen – Zeitspanne wieder aus. Doch auch für die schwereren Fälle gibt es Möglichkeiten, den leidvollen Zustand zu verbessern und die ursprüngliche Gesundheti zumindest teilweise, wenn nicht sogar sehr weitgehend wiederherzustellen. Davon ist auch in einigen der Reportagen die Rede, insbesondere aber sollen die Ratschläge und Adressen im Anhang Mittel und Wege aufzeigen. Das Schleuder- oder HWS-Distorsionstrauma wurde über die Jahrhunderte in wechselnden Zuordnungen bald organisch, bald primär psychologisch erklärt. Begreiflich, dass ein heilloses Chaos darüber entstand, was es nun eigentlich ist. Eine zwar seit sehr langer Zeit bekannte, jedoch bis heute nicht geklärte Sache, könnte man sagen. Tatsächlich: Beschreibungen des Leidens und Behandlungsversuche sind mindestens seit dem 18. Jahrhundert überliefert. Nach den damaligen Kriegschirurgen im Gefolge der napoleonischen Armeen waren es ab dem 19. Jahrhundert vor allem die zivilen Chirurgen und Neuropsychiater, die mit der wachsenden Industrialisierung, der Urbanisation und dem Aufkommen der Eisenbahnen die Folgen dieser Art von Unfällen beobachteten, behandelten oder auch bestritten. Ihre Behandlungsansätze blieben denn auch so unterschiedlich wie ihre Erklärungenwidersprüchlich. Moderne Spezialisten, vor allem in Deutschland, legen ihr Augenmerk wieder vermehrt auf die organische Seite. Beim nicht spontan ausheilenden Schleudertrauma werden dabei ungeklärte Symptome in Verletzungen auch an den Bändern und Muskeln im Bereich des Kopfgelenkes sowie an den Hirnhäuten und im Gehirn selbst vermutet und entsprechend untersucht. Je mehr Boden dieser Ansatz gewinnt, desto mehr Aufmerksamkeit wird den neuen bildgebenden Verfahren geschenkt werden,cdie solche Schäden tatsächlich sichtbar machen. Doch auch von Seiten der Stress- und Traumaforschung kommen neue Impulse: Sie geht davon aus, dass ein Schleudertrauma, wie jedes andere Trauma, seine Biologie hat. Der ganze Mensch ist betroffen, wenn diese Biologie – nicht Pathologie – das Steuerruder erst einmal übernommen hat. Ob Botenstoffe oder Hormone, Schmerzzustände oder Angst: Einmal installiert, regiert ein Schleudertrauma, und ihm sind nahezu alle Vorgänge im Körper und in der Seele ausgesetzt. Menschen mit dieser Verletzung können deshalb gar nicht einfach wollen oder verarbeiten und so ihre Schmerzen und Folgeprobleme lösen. Noch neuer ist das Wissen, dass sehr vieles aus dem biologischen Mechanismus mit der von Peter A. Levine in den USA entwickelten Methode der Trauma-Heilung reversibel ist. Trotz der fortgeschrittenen Erkenntnisse ist leider nicht anzunehmen, dass die wechselnde Zuordnung des Schleuderoder HWS-Distorsionstraumas zum organischen oder zum psychologischen Bereich so bald zur Ruhe kommt. Die in den westlichen Industrieländern von einem solchen Trauma Betroffenen haben zwar bessere Chancen als je zuvor in der Geschichte, jene Unterstützung zu bekommen, die sie entlastet. Diese Chancen können aber nur unter der Voraussetzung eingelöst werden, dass Verleugnen und Bestreiten – vor allem von Seiten der Unfall- und Haftpflichtversicherer – der Akzeptanzweichen. Nicht nur das Leiden selbst muss anerkannt werden, auch die sich ergänzenden wissenschaftlichen und therapeutischen Erkenntnisse und Ansätze sind zum Wohl der Patienten auf Kenntnisnahme und kluge Kombination angewiesen. Diese zu mehren ist das Hauptanliegen dieses Buches.

Vielen Dank, dass Sie auf meine Seite gesurft sind. Ich wuensche Ihnen einen schönen Tag. :)